Seit bald vier Monaten ist mein Bewegungsradius mit wenigen Ausnahmen auf Berlin und Umland beschränkt. Ich habe mir vor dem Hintergrund der Corona-Erfahrung mehrfach geschworen, nicht mehr kurz in eine andere Stadt zu pendeln, um bei einem Konzert oder einem Gespräch dabei zu sein. Geht alles auch digital, Berlin ist auch nicht arm an Angeboten und mein Leben hat sich normalisiert – manchmal etwas zu ruhig, aber was beschwere ich mich. Ruhe hatte ich in den letzten Jahren eher weniger und es ist okay, was ich habe: Kühlschrank voll, Gesundheit, ein Team, einen Freundeskreis, sogar ein teures Fahrrad.
Dass unser Ding aktuell nicht geht – geschenkt. Die jnp wird 10 und wir haben ohne Projektstress Zeit, Ahnenforschung zu betreiben. So sitze ich nach kurzem Zwist mit meinem neuen Leben spontan im Zug nach Lüneburg, um zwei richtig gute Freunde zu treffen: Joosten und Jakob, die ihr erstes Konzert seit März spielen werden.
Ich treffe sie nach der Probe und vor dem Konzert in St. Johannis. Hier habe ich 2008 beim Weihnachtskonzert mit dem Bundespräsidenten im Niedersächsischen Landesjugendorchester Posaune gespielt und, wie wir schnell feststellen, war auch Joosten Ellée aus Leer an der Geige dabei. Jakob Nierenz wiederum ist ein Kumpel meines ehemaligen Sitznachbarn im Blechbläserquintett. Jakobs Vater ist in Lüneburg Musikschulleiter, seine Mutter Geigenlehrerin und so wurde Cellist Jakob zu einer Institution der norddeutschen Jugendorchester. Sofort sind wir mittendrin, verstehen uns wie immer und gleichzeitig sind umfassende Updates angesagt: „Was, Du wohnst wieder in Bremen, kein Frankfurt mehr?“ – „Ja weißt Du, die Luft ist im Norden ne ganz andere“.
Jakob hat im Jahr 2010 den Aufruf „junge norddeutsche philharmonie – Mahler 5 & 8 – jetzt bewerben!“ auf Facebook gesehen, sich nicht lange bitten lassen und sich für die jnp beworben. Lebendige Erinnerungen an Kacke bauen in Neubrandenburg und enorm witzige Bekanntschaften werden serviert, sowie den Fakt, dass er als echtes Urgestein nach einem rundum überragenden Projekt mit Strauss‘ Heldenleben seinen damaligen Bremer WG-Buddy auf die jnp-Bewerbungsseite gelotst hat. Es ist der Joosten, welcher mich später ins jnp Team holen und damit meine (nicht-)Studienzeit schwer beeinflussen wird.
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Die beiden sind mein Auftakt in die Jubiläumswochen, in denen wir den jnp-Alumni und wichtigen Unterstützer:innen folgen möchten, um zu verstehen, was in 10 Jahren jnp geschehen ist, was sich innerhalb unseres Netzwerks entwickelt und bei unseren Leuten seitdem getan hat. Jakob und Joosten haben ihren Platz im jnp-Museum sicher, da sie ihren Traum eines eigenen Kammerorchesters – inspiriert von Bremer Einflüssen – zur richtigen Zeit bei den jnp-Gründern platziert haben. Heute sind die beiden Musiker sowie Kulturunternehmer, als Konzertmeister bzw. Solo-Cellist des Kammerorchesters ensemble reflektor. Wir reden darüber, wie die Projekte jnp und ensemble reflektor sich fast gegenseitig kannibalisiert hätten, finanziell zeitweise unter Meereshöhe gefahren sind, wie die Trennungsschmerzen erlebt und verarbeitet und wie die Ausgliederung dennoch umsichtig und mit Unterstützung aus jnp-Kreisen bewerkstelligt werden konnte. Sie packen ungefragt auf den Tisch, dass sie aus ihrer jnp-Zeit viele Dinge mitgenommen haben. Eine Auswahl:
- Falsch anfangen und schnell daraus lernen, anstatt eine Idee kaputtzudenken
- Am Traum festhalten, mit Freund:innen arbeiten zu dürfen
- Gelebte Offenheit („es ist so leicht, exklusiv zu sein…“)
- Freude und Selbstbewusstsein bei der Zusammenstellung der Programme, der Einflussnahme auf den Konzertkontext, der Organisation des Ablaufs
Es ist mehr als ich erwartet habe und vor allem alles außer „Bühnenerfahrung“. Es sind Antworten auf die Frage, wie sie als Musiker:innen leben und arbeiten möchten. Wir jnp’ler:innen sind zumindest ein bisschen Rollenvorbild für zwei der coolsten Musiker:innen ihrer Generation. „Was kann unser Netzwerk heute für die beiden sein?“ – frage ich mich, bevor das Konzert beginnt.
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Mit dem Konzert beginnt meine zweite Erfahrung des Tages. Ich werde daran erinnert, dass ich ein längeres Alleinsein mit meinen Gedanken fast ausschließlich im Konzert erlebe. Im Alltag nehmen mich die Arbeit, das Smartphone, die Zeitung oder die Wohnung nach wenigen Minuten gefangen. Zwischen meinen Ohren blubbert es unablässig und nur im Konzert muss ich zuhören – dann höre ich auch mich selbst. Ich habe in den vergangenen Monaten vergessen, wie sehr mir diese Ruhe zum nachdenken bzw. dem mir-selbst-zuhören fehlt. Ich bin dankbar, dass ich diese Erfahrung wieder machen darf.
Und die Musik! Selten hat mich klassische Musik mehr berührt, gekickt und aktiviert als heute. Das Programm und der Konzertablauf sind absolut geil kuratiert: Joosten und Jakob spielen miteinander und füreinander, ihre Solo- und Duostücke greifen in jeder Hinsicht optimal und ohne Unterbrechungen ineinander. Bereits ihre geschmackvollen Entscheidungen zum Programm und Konzertablauf machen mich glücklich: Die Auswahl der ineinander verschränkten Auszüge von Deprez, Bach, Britten, Schulhoff, Kurtag und Perkinson ist nicht abstrakt, nicht beliebig, sie ist ästhetisch enorm überzeugend und formt zwei klar durchdachte, kompakte Konzerthälften in einem Flow.
Joosten gesteht schon vor dem Konzert, dass er sich nicht erinnern kann, jemals so aufgeregt gewesen zu sein, Jakob hinterher: „das war extrem scary“. Ich bin enorm glücklich, dass es meine Freunde und Kollegen sind, die in einer Zeit mit wenigen kulturellen Live-Veranstaltungen für alle Anwesenden einen sehr wertvollen Moment schaffen konnten. Und noch mehr freut es mich, dass sie ihre Substanz auch auf unser Gemeinschaftsprojekt jnp zurückführen und dass wir uns bis heute immer wieder als Freunde und Kollegen begegnen.
Was können und wollen wir heute für die Generation Jakob & Joosten sein?
In den kommenden Wochen werden wir fast täglich solche Begegnungen erleben dürfen. Ich empfinde eine riesige Vorfreude auf eine – für jnp-Verhältnisse untypisch – leise, nachdenkliche, reflektierende Sommerzeit. Ich habe heute einen kleinen Eindruck bekommen, was wir in 10 Jahren jnp erreicht haben und nehme Fragen mit: Was können und wollen wir heute für die Generation Jakob & Joosten sein? Wie können wir die heute aktiven jnp’ler:innen mit den bereits gemachten Erfahrungen der jnp’ler:innen a. D. noch mehr unterstützen? Dieser Sommer ist die große Chance, das gewachsene jnp-Netzwerk in seinen Facetten und Kompetenzen neu kennen zu lernen. Dass daraus etwas Neues entsteht, werden wir wohl nicht verhindern können.
00:10 Uhr zu Hause, ich bin bleiern müde von knapp sechs Stunden Zugfahrt für ein Gespräch und ein Konzert – ohne Bürovormittag und Arbeit im Zug wäre es nicht drin gewesen. Merkt ihr selbst: Die Ruhe der letzten Monate wird eine Episode und ein frommer Wunsch bleiben. Unser Projekt ist nicht auf der linken Arschbacke groß bzw. 10 Jahre alt geworden. Freuen wir uns einfach, dass wir wieder unterwegs sein, extrem viele Leute wieder sehen, gemeinsam unseren Laden neu erfinden und irgendwann auch mal wieder zurück zu den Wurzeln kommen können: 100 Musiker:innen auf wahlweise 12x14m oder 10 Klassenräumen.
Beitrag von Konstantin Udert